17. November 2018

17. November 2018, Biebesheim/Rhein

Die gepflasterte Rampe führte Abwärts in Richtung des Wassers. Eine rotweiße Schranke verhinderte die Zufahrt. Sicherlich hätten sonst schon einige, ob gewollt oder ungewollt sei einmal dahingestellt, die Schwimmfähigkeit ihres Automobils ausgetestet. Am unteren Ende des Pflasters türmten sich Flusssteine zu einem kleinen Wall auf. Ein letztes Hindernis, um zu verhindern, dass die Reifen der schweren Anhänger mit ihren Booten auf dem Rücken, die hier gewöhnlich zu Wasser gelassen werden, gänzlich im Rheinschlick versinken würden. Das Wasser des Rheins, das normalerweise mindestens das untere Drittel der Rampe bedecken würde, hatte sich weit zurückgezogen. Es blieben kleine und große Sandbänke, die von seichtem Wasser umspült wurden, und die nun selbst eine mäandernde Flusslandschaft im Kleinen abbildeten. Die Simulation eines ausufernden Deltas. Ein ganzes Stück weiter draußen auf dem fließenden Wasser versuchte ein Mann den Außenbordmotor seines kleinen Bootes in Gang zu setzen. Es klappte nicht. Als er sein Boot verließ, um ins Wasser zu steigen, stand er kaum kniehoch darin. Schiebend versuchte er mit seinem Boot in tieferes Wasser kommen. Nach einiger Zeit gelang es ihm, den Motor zu starten und er tuckerte langsam davon.

Ich hoffte für ihn, dass der Motor nicht unterwegs schlapp machen würde, sonst müsste er aussteigen und sein Boot nach Hause schieben. Dass er das überhaupt tun könnte, war dem extrem niedrigen Wasserstand geschuldet, der den sonst so mächtigen Rhein zu einem schmalen Flüsschen machte, das sich vermutlich bequem zu Fuß durchqueren ließe, wenn man es denn tun wollte. Ich wollte es nicht. Ein lärmender Wasserskifahrer wollte meine ganze Aufmerksamkeit. Sensationsheischend das photobereite Smartphone in Händen, wartete ich vergeblich darauf, dass eine versteckte Sandbank ihn abrupt abbremsen würde, und er schaffte es, ohne einen unfreiwilligen Halt aus meinem Blickfeld zu verschwinden.

Ein Altrheinarm, der hier seinen Anfang nahm und immer auf Speisung durch den großen Fluss angewiesen war, saß auf dem Trockenen. Seine steinerne Rinne war ausgetrocknet. Ein großes Einbahnstraßen-Verbotsschild, das die Einfahrt von der Flussseite in den kleinen Seitenarm verhindern sollte, wirkte seltsam deplatziert. Weder Wasser noch Boote waren in Sicht, um dieses Verbot verletzen zu können.

Hinter mir türmte sich ein Steinwall auf, der das Flussbett begrenzte. An den Steinen konnte man den sonst üblichen Wasserstand ablesen. Geschätzt saß ich etwa einen Meter unter Wasser. An diesem Tag aber nicht, und vor mir breitete sich stattdessen ein Sandstrand aus. Der Auwald, der oberhalb des Steinwalls in meinem Rücken wuchs, machte aus dem kühlen Ostwind ein entferntes und laues Lüftchen. Der feine trockene Sand, die Muscheln und die warme Sonne, die mir ins Gesicht schienen, ließen mich eher an einen Strandurlaub denken, als an einen Tag in der Mitte des Novembers, dessen nachfolgende Tage auch schon erheblich kälter daher kommen sollten. In meiner Jackentasche fand sich noch ein Klappstuhl, und ich saß lange und bequem in der Sonne. Vergeblich versuchte ein Glitzern am Strand mich aus meinem entspannten Sitz zu locken. Sollte der verschwundene Rhein endlich den Schatz der Nibelungen preisgeben wollen? Ich verspürte keine Lust, den Strand danach abzusuchen. An diesem Tag hatte ich schon meinen Schatz gefunden, auch wenn ich ihn nicht unbedingt in die Taschen stecken konnte.

8. Oktober 2018

8. Oktober 2018, Oppenheim/Rhein

Im milden Klima der Weinbau-Regionen ist der Exot gar nicht so selten anzutreffen. Ein wildwucherndes aber gleichwohl stattliches Exemplar hatte seinen Standplatz an der Hausfassade eines Weingutes gefunden. Unerreichbar waren die überreifen Früchte in der Krone. Im unteren Bereich sah ich nur herbstlich grünen Fruchtansatz, der wohl nicht mehr ausreifen wird. Zwei, drei Meter vom üppigen Wuchs der Feige entfernt, standen Rebstöcke in Reih und Glied. Zwei biblische Gewächse nebeneinander. Eines musste auf Ertrag arbeiten, das andere diente der puren Lust.

Im Nachhinein ärgerte es mich, kein Feigenblatt gepflückt zu haben. Die nächste Blöße kommt doch bestimmt.

3. Oktober 2018

3. Oktober 2018, Orangerie, Darmstadt

Während die widerspenstige deutsche Einheit aller Orten wahlweise propagiert oder protestiert wurde, ist das Wandeln zwischen Palmen und Zitrusfrüchten, auch wenn sie nur in großen Kübeln wachsen, doch erfrischend. Ein mediterranes Ambiente mit dem Plätschern von Wasserfontänen bei angenehmen Herbsttemperaturen und fast ausgestorbenen Wegen. Mit gutem Willen, zumal begleitet durch drei arabisch sprechende Männer, die parallel des Weges entspannt auf der Rasenfläche gingen, konnte ich mich schon ganz woanders wähnen. Gleiches galt wohl auch für die drei zufälligen Begleiter, die immer wieder an den exotischen Planzen stehen blieben. Vielleicht nahmen sie ihre Heimat auf, als Bild, als Geruch, als Erinnerung. So wie ich die Ferne.

1. Juli 2018

1. Juli 2018, Darmstadt

Explodierende Platanen

Obwohl es mir manchmal ganz gut gelingt, einfach aus der Haut zu fahren, ist es gleichwohl schwieriger, aus ihr zu schlüpfen. Einfacher hat es da die doppelzüngige Schlange, die sich bei Wachstumsschüben ihrer alten Schuppenhaut entledigt. Oder eine Platane, die dieser Tage ihre Haut absprengt, weil sie größer werden will. Ein Holzzuwachs verbunden mit einer großartigen Camouflage ihrer Borke.

10. Juni 2018

10.Juni 2018, Darmstadt

Sonntäglicher Gang durch Bürohaus-Idylle. Die visuelle Wahrnehmung häutet sich. Wo beginnt die greifbare Realität bei dieser geschichteten Sehnervreizung?

1.Juni 2018

1. Juni 2018, Darmstadt

Spargelsatt

Nun darf er sich zeigen und langsam seinen Kopf durch die trockene und brüchige Sanddecke schieben. Die Dunkelheit in der Erde kennt keine Farben, aber im Licht des Tages wird das bleiche Weiß sich schnell violett verfärben und anschließend grün. Er wächst sich zu einem Strauch mit feinsten Verästelungen aus und keiner will ihn in dieser Form mehr auf dem Teller haben.

Gut drei Wochen vor dem Saisonende werden die ersten Spargelfelder schon nicht mehr abgeerntet. Vermutlich sorgt ein überreiches Angebot dafür, hier vorzeitig dem natürlichen Wachstum seinen Lauf zu lassen. Vor einigen Tagen noch standen hier zur Mittagszeit die großen Kisten voller Spargelstangen am Feldrand zur Abholung bereit. Die osteuropäischen Spargelstecher, die sich für wenig Lohn für uns den Rücken krumm machen, sind schon zum nächsten Spargelfeld oder zum übernächsten weitergezogen. Oder zu den Erdbeeren, die bei hochsommerlichen Temperaturen auch nicht zu wachsen aufhören wollen. Im Stadtgebiet trifft man gefühlt alle 500 Meter auf einen dieser hölzernen Verkaufsstände, die Spargel und Erdbeeren im Überfluss bieten. Wenige Kilometer entfernt, auf den trockenen Wegen zwischen den Feldern, zieht ein Lieferwagen eine lange Staubfahne hinter sich her. Er fährt von Feld zu Feld und lädt die Ernte des Vormittags auf seine Ladefläche. Die gestapelten Türme aus grauen, roten oder blauen Plastikkisten erreichen bedenkliche Höhen. Gut für mich, dass bei der vollbepackten Abfahrt, dank Stapelei und reduzierter Geschwindigkeit, die Staubfahne nicht ganz so forsch die Luft erfüllt. Cowboy-Hut und Halstuch habe ich zu Hause gelassen.  

Mai 2018

Mai 2018, Darmstadt

Der Geist der Litfaßsäule.

Aus dem Stadtbild verschwinden sie immer häufiger. Trifft man noch auf eine, kommt es mir nicht selten so vor, als wäre die älteste Form der Außenwerbung vergessen worden. Die alten Werbeplakate sind halb heruntergerissen, hängen nun wie schlaffe Papierfahnen herab und erlauben mir einen Blick in die darunterliegenden Schichten der verklebten Plakatkultur. Solcherart zufällig decollagiert kann neben dem guten Geist auch das Diabolische erscheinen.

26. November 2015

Darmstadt, Park Rosenhöhe. Karl Krolow von Prof. Thomas Duttenhöfer
Darmstadt, Park Rosenhöhe. Karl Krolow von Prof. Thomas Duttenhöfer

26. November 2015, Darmstadt

Novemberleuchten mit Karl Krolow.

„Immer hat alle Hände voll zu tun, wer seine Augen gebraucht.“

Das Zitat stammt von Karl Krolow und ist dem 1964 erschienen schmalen Suhrkamp-Bändchen „Poetisches Tagebuch“ entnommen. Gute Leselektüre allemal, aber vermutlich nur noch antiquarisch aufzutreiben. 

 

Ein paar windige Tage reichten aus, um die Bäume leer zu räumen. Sie haben sich entlaubt, und der November zeigt uns jetzt die kahlen Gerippe, die uns durch den Winter begleiten werden. Zumindest hier in Darmstadt ließ sich die Sonne meist nur hinter grauen Wolkendecken erahnen. Es ist gerade einmal ein paar Wochen her, da lief mir Karl Krolow noch vor bunten Herbstblättern ins Bild. Zu seinen Lebzeiten konnte man ihm eben dort regelmäßig auf seinen Spaziergängen begegnen. Heute ist eine solche Begegnung nicht mehr dem Zufall geschuldet. Er schreitet leicht vorgebeugt und auf einer Bodenplatte fest verankert tagein, tagaus, durch die Jahreszeiten. Im Park Rosenhöhe in Darmstadt, wenige Schritte von seiner letzten Wohnung entfernt, steht diese wunderbare Skulptur Karl Krolows. Einer seiner Nachbarn dort im Park hat diesen spazierenden Nachhall auf einen der bedeutendsten Lyriker deutscher Nachkriegsliteratur erschaffen. Wie nur wenige Bildhauer versteht es Thomas Duttenhöfer immer wieder, Wesen und Charakter der von ihm modellierten Personen ins rechte Licht zu rücken. Krolow spaziert, und ich freue mich immer darauf, ihm zu begegnen.

Text und alle Abbildungen: Dieter Motzel

2. November 2015

2. November 2015, bei Darmstadt.

In den Nebel gezeichnet.

Die ersten Tage des Novembers haben sich hier im Rhein-Main-Gebiet in eine dicke Nebeldecke eingehüllt. Die blätterleuchtenden Tage des Herbstes scheinen vorüber zu sein, und eine unangenehme Feuchtigkeit kriecht bei jedem Gang im Freien unter die Jacke. Im dichten Nebel zeigt ein bekannter Weg eine neue optische Qualität, die eine technische Konstruktion buchstäblich in Luft auflöst. Spannende Formen werden in den Nebel gezeichnet.

Nur ein Flügelschlag von Halloween entfernt: Schemenhafte Krähen lösen sich mit viel Geschrei und Gezeter aus den oberen Etagen des Stahlgerüstes. Mein Auge vermag es nicht mehr zu erkennen, aber wundern würde es mich nicht, wenn der obere Teil des Mastes aus Krähen bestünde, die nun im Nebel verschwunden sind … und mit ihnen der Stromleitungsmast.

Nicht nur die Nacht gebiert Monster. Während ich diese Zeilen schreibe, hat sich vor meinen Augen ein Glühwein in Luft aufgelöst. Ich merke schon, dass mir noch ein bisschen die Balance für die kalten Tage fehlt.

Text und Alle Abbildungen: Dieter Motzel.

29. Oktober 2015

29. Oktober 2015, Darmstadt

Die norwegische Sängerin Silje Nergaard begegnete mir ein paar Mal auf Augenhöhe. Ich nahm wenig Notiz von ihr, jedenfalls, solange sie am Laternenmast hing. Seit einigen Tagen hat sie sich in ein Bodendecker-Gestrüpp vor einem Parkplatz zurückgezogen. Die Witterung hat ihr arg zugesetzt und auch Gewaltanwendung hat ihre Spuren hinterlassen. Am liebsten hätte ich sie nun mit nach Hause genommen, was allerdings aus verschiedenen praktischen Gründen nicht möglich war. So musste es genügen, einhändig die Kamera ins Ziel zu wackeln, an der anderen Hand zog ein unruhiger Hund. Der hatte wenig Interesse an der überraschenden Verfallsästhetik eines Veranstaltungsplakates.

Text und alle Abbildungen: Dieter Motzel